Corona-Pandemie - Jetzt Erfahrungen aus 30 Jahren HIV/Aids Prävention nutzen

Interview mit dem Vorstand der Aidshilfe Niedersachsen e.V.

Vorstand Aidshilfe Niedersachsen Hoffmann, Wichers, Stoll 2020
© Aidshilfe Niedersachsaen e.V.

Was können wir in der Corona-Krise von HIV/Aids und von mehr als 30 Jahren Präventionserfahrung lernen?

Was können die Aidshilfen Politik und Bevölkerung mitgeben?

Diesen und weiteren Fragen beantwortet der Vorstand der Aidshilfe Niedersachsen Landesverband e.V. in einem Interview.

Die Corona-Epidemie steuert in Deutschland auf ihren Höhepunkt zu. Der Blick auf den globalen Ausbruch von HIV/Aids Ende der 1970-er Jahre zeigt, dass weltweit vernetztes Forschen, der Austausch von Wissen, eine konsequente Aufklärungsarbeit, zielgruppenspezifische Ansprachen und Präventionsansätze hilfreich sind, um einer tödlichen Pandemie den Schrecken zu nehmen: Fast 45 Jahre nach den ersten Krankheitsfällen leben derzeit weltweit rund 38 Millionen Menschen mit dem Human Immunodeficiency Virus (HIV).

Nach aktuellen Zahlen des Robert Koch Instituts (2018) sind es in Deutschland knapp 88.000. Davon nehmen 71.400 Menschen HIV-Medikamente. Trotz nachweislicher Erfolge und unermüdlicher Präventionsarbeit besonders durch die Aidshilfen infizieren sich bei uns noch immer mehr als 2.000 Menschen (2018: 2.400) pro Jahr neu. Die Zahl geht seit 2015 kontinuierlich zurück. 88 Prozent der Infektionen sind diagnostiziert. 93 Prozent der Diagnostizierten erhalten HIV-Medikamente. Bei 95 Prozent davon ist HIV nicht mehr nachweisbar.

PROF. DR. MATTHIAS STOLL, Sie sind ein erfahrener Infektiologe, haben die HIV-Ambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover mit aufgebaut und leiten derzeit u.a. die dortige Corona-Infektionsstation. Gleichzeitig engagieren Sie sich seit Jahren für die Aidshilfen in Niedersachsen.

Welche Lehren können und sollten aus der HIV/Aids-Epidemie für den Kampf gegen die massive Ausbreitung von Covid-19 gezogen werden?

Die Frage ist doch: Darf man Aids/HIV (1981) und Covid/SARS-CoV2 (2019) überhaupt vergleichen? Ein klares ja! Die guten Nachrichten zuerst: Seither wurden weltweit Alarm-, Pandemie- und Infektionsschutzpläne erarbeitet. Forschung und Politik haben sich international vernetzt, einheitliche und beschleunigte Standards für Wissenschaftspublikationen, Testverfahren und Arzneimittel-Entwicklung wurden durch Aids vorangetrieben. Spezialisierte Beratungs- und Behandlungszentren sowie Kooperationen und persönliche Kontakte von Präventionist*innen und Wissenschaftler*innen, wie das jahrzehntelange Kooperationsprojekt zwischen den Aidshilfeorganisationen in Südafrika und Niedersachsen bilden ein festes Fundament auch für den Kampf gegen Covid.

Die schlechten Nachrichten: Leider scheinen die vor fast vier Jahrzehnten gemachten Lehren aus alten Fehlern bisher kein Teil der menschlichen Schwarmintelligenz geworden zu sein: Ausgrenzung von Infizierten, Schuldzuweisungen, die Projektion der Infektionsgefahr auf Ethnien oder Bevölkerungsgruppen; offener Rechtsbruch in Bereichen wie Datenschutz und Patientengeheimnis, die weder durch Verfassung noch durch Infektionsschutzgesetz gedeckt sind, werden propagiert und teilweise bereits fast unwidersprochen exekutiert. Das ist sehr schade. Die letztgenannten Kritikpunkte betreffen ausdrücklich nicht die mehrheitlich und erst synergistisch wirksamen Maßnahmen wie die Abstandsgebote und Kontaktminimierung.

Bedenklich aber sind namentliche Meldungen von Krankheitsfällen an Sicherheitsbehörden und die anfängliche Forderung nach flächendeckendem Personentracking mit Hilfe deren Mobiltelefone.

Können Aids-Medikamente bei Corona helfen?

Ja und nein! Es gibt inzwischen mehrere Dutzend verfügbare Kandidaten, die möglicherweise gegen SARS-CoV-2 wirksam sein könnten. Darunter sind auch die HIV-Proteasehemmer Lopinavir, Darunavir und Ritonavir. Das ist einerseits gut, weil wir für solche Medikamente Erfahrungen zur Dosierung und Verträglichkeit haben. Andererseits wissen wir bisher über die Wirksamkeit bei Covid noch für keinen der Kandidaten etwas Aussagefähiges. Die Erkrankung verläuft in der Mehrzahl gutartig. Also bisher gilt der klare Appell, vom unkritischen Einsatz – also vor allem vom Einsatz außerhalb von klinischen Studien – abzuraten.

Welche Haltung empfehlen Sie der Bevölkerung?

Zuversicht:
Die Erkrankung ist für die meisten Menschen harmlos. Sich nicht anzustecken ist dennoch ein Gebot, welches aber vor allem dem Schutz der Gemeinschaft dient. Kooperation bei den Präventionsmaßnahmen: Ausbrüche von Infektionskrankheiten haben schon Völkergemeinschaften destabilisiert und Kulturen untergehen lassen. Die Vorbeugungsmaßnahmen, die unser öffentliches und persönliches Leben einschränken, helfen uns, Schlimmeres zu verhüten. Solidarität mit den von der Erkrankung und deren – z.B. wirtschaftlichen – Auswirkungen Betroffenen: Dazu gehört auch Wachsamkeit gegenüber manchen bedenklichen Stimmungen und sachlich ungerechtfertigten Bestrebungen, die zur Stigmatisierung und Entrechtung von Betroffenen oder bestimmten Zielgruppen führen. Letztere werden neuerdings ganz entlarvend schon wieder mit dem Unwort „Risikogruppe“ etikettiert.

DR. CHRISTIAN WICHERS, Sie praktizieren als niedergelassener Hausarzt in Hannover, behandeln u.a. Menschen aus der Queeren Community (LSBTIQ). Seit Jahren engagieren Sie sich für die Aidshilfe in Hannover, mittlerweile auch für den Landesverband AHN.

Was können Sie und Ihre Kolleg*innen von der Arbeit der Aidshilfen lernen?

Die Corona-Pandemie hat sicher alle Mitbürger*innen mit der Frage konfrontiert, wann sie sich ggf. testen lassen sollten, um eine Ausbreitung des Virus zu verringern. Das erinnert natürlich an die großen Testkampagnen von HIV, bei denen es um ein ähnliches Ziel geht. Genau deshalb lautet ein Appell des Robert Koch Instituts mittlerweile ja auch bei Covid: testen, testen, testen! Viele Ärzt*innen denken nicht an die Möglichkeit einer HIV-Infektion, wenn Patient*innen nicht selbst darauf zu sprechen kommen oder einer der am stärksten betroffenen Gruppen angehören. Nach Hochrechnung des RKI für das Jahr 2018 leben insgesamt noch immer ca. 10.600 Menschen in Deutschland unwissentlich mit HIV. Das UNAIDS-Etappenziel für das Jahr 2020, dass 90 Prozent aller Menschen mit HIV diagnostiziert sein sollen, verfehlt Deutschland noch (aktuell 88 Prozent). Auch hier heißt es also: weitertesten!

Was empfehlen Sie Ihren Patient*innen?

Ruhe und Besonnenheit. Sich und andere schützen. Mundschutz tragen, wo es sinnvoll ist. Für alle Menschen – mit oder ohne HIV – sind die wichtigsten Maßnahmen zum Schutz vor Corona das gründliche und regelmäßige Händewaschen mit Seife und die Reduzierung sozialer Kontakte. Das betrifft auch das Sexleben. Bleiben Sie besonnen und gelassen.

JÜRGEN HOFFMANN, Sie haben die Geschäfte der Braunschweiger Aidshilfe viele Jahre geführt und arbeiten seit 2019 ehrenamtlich im Vorstand der AHN.

Was können Politik und Gesellschaft von den Aidshilfen lernen?

Panik lähmt und schadet – gefragt ist vertrauenswürdiges Wissen. Denn Wissen trägt dazu bei, dass Menschen für sich selbst und andere Verantwortung übernehmen und sich z.B. testen und behandeln lassen. Dabei ist Transparenz und Augenhöhe wichtig. Es geht um Kampagnen mit Augenzwinkern, die den jeweiligen Lebensstil akzeptieren. Diskriminierung hingegen schreckt Menschen ab. Im Zentrum müssen der Mensch und seine Gesundheit stehen. Wir betreiben Prävention und Gesundheitsförderung im Bereich HIV/Aids und anderer sexuell übertragbarer Infektionen (STI) für die besonders von diesen Krankheiten bedrohten und betroffenen Gruppen. Diese Gruppen beziehen wir dabei stets in unsere Arbeit ein. Wir wollen Menschen befähigen, sich zu schützen und einen gesellschaftspolitischen Rahmen schaffen, in dem Infektionen vermieden werden können. Wir wollen, dass Menschen trotz ihrer HIV-Infektion möglichst lange ohne schwerwiegende Krankheiten leben können. Die Aidshilfen richten ihre Angebote zu gesundheitsförderndem Verhalten an den Lebenswelten von Individuen und Gruppen aus, fördern Selbsthilfe und Selbstorganisation, mahnen Veränderungen an, wo Politik und Gesellschaft Gesundheitsförderung behindern, engagieren sich für eine Pflege und Versorgung, die sich an den Rechten und Bedürfnissen der Patienten orientieren.

Haben Sie einen Corona-Tipp für die Bevölkerung?

Immer wieder geht es um die Schuldfrage. Das ist bei HIV und Aids so und jetzt wieder bei Corona. Man muss es sich immer wieder klarmachen: Das Virus ist schuld und nicht der infizierte Mensch. Die Ausgrenzung von Infizierten oder vermeintlich Infizierten geht gar nicht. Denn das führt nicht nur zu vermeidbarem menschlichen Leid, sondern auch zu einer weiteren Ausbreitung des Virus.

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Das Interview mit dem ehrenamtlichen Vorstand der Aidshilfe Niedersachsen (AHN) hat die hannoversche Journalistin Britta Grashorn geführt. Es steht Ihnen honorarfrei zur Verfügung.

Gleiches gilt für die anlassbezogene Verwertung der Porträtfotos des AHN-Vorstandes (Fotos: Hannappel/AHN), die Sie zusammen mit dem Interview im PDF- Format in dieser Dropbox finden:
https://www.dropbox.com/sh/zs33nm2f0h98v73/AAD0POd4a_fOL-VAs1iauW0pa?dl=0